Findet mich ist Doris Wirths Debütroman und als Familienroman angelegt. Auf Anhieb hat er es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft und das zu Recht.
Die Familie der Rüeggs, der wir in Rückblenden des komplett im Präsens geschriebenen Romans folgen, ist nicht normal. Der Roman setzt ein, als die Familie Rüegg aus dem Ruder läuft.
Der Familienvater Erwin, zu dem Zeitpunkt Ende fünfzig, setzt sich in seinen seinen zum Campingwagen umgebauten Toyota und lässt alles hinter sich. Rücksicht nimmt er dabei nicht auf seine Familie. Die Rückblenden beginnen in Erwins und Marias Kindheit und in die Zeit, als die beiden sich verliebten. Es wird von ihrer Heirat erzählt und wie die Geburt ihrer Kinder Lukas und Florence den Alltag zunehmend verändert.
Was wird erzählt?
In insgesamt acht Kapiteln wird die Familiengeschichte der Rüeggs aus Sicht der einzelnen Mitglieder nacherzählt, mit Sprüngen, Auslassungen und Aussparungen. Sie teilen Liebe und Sorgen. Erwin, der typische Familienvater, ringt um den beruflichen Erfolg, erleidet Tiefschläge, fühlt sich überfordert, im Stich gelassen. Zwischen den Eheleuten herrscht eine Orientierungslosigkeit darüber, wie Selbständigkeit und Verbindlichkeiten zu vereinbaren seien. Maria, die gebende, fürsorgliche Mutter steckt zurück, hält alles zusammen, wird wieder berufstätig. Dadurch überlastet, erleidet sie eine Hirnblutung. Sohn Lukas will nichts von Bildung und Schule wissen, liebt die Musik, kifft und zieht, sobald es nur geht, aus, um sich als Gitarrenlehrer durchzuschlagen. Die jüngere Schwester, Florence, leidet an Bulimie, an der Stimmung im Elternhaus, an der Kleinstadt in der Schweiz und träumt davon eine Künstlerin zu werden. Alle benötigen ihre Freiräume, aber diese Freiräume werden ständig von den anderen bedroht.
Sie verschlingt das Eis, den Schokoriegel, stülpt sich die Ärmel hoch, streicht sich das Haar hinter die Ohren. Sie lehnt sich über die Schüssel, sie braucht nur ein wenig zu kitzeln am Zäpfchen, mehjr ist nicht nötig. Der erste Schwall ist angenehm, warm, meist schmeckt man die Schokolade noch.
Eine Art „Fragment-Ich“ bleibt zwischen den aufblitzenden Einzelereignissen staunend zurück.
Sprachlich sparsam erzählt die Gesamtsituation einer Familie
Doris Wirths nimmt die zunehmende geistige Unberechenbarkeit des Vaters zum Anlass, die familiäre Gesamtsituation in Sprache zu fassen. Ihre Prosa ist geprägt von knappen, einfachen Sätzen. Dabei ist sie weniger individualistisch-exhibitionistisch, als andere autofiktionale Werke wie z. B. die von Sylvie Schenks (Maman) oder Janina Hechts (In diesen Sommern). Der Vater hat ein veritables Impulskontrollproblem, geht fremd und lebt sadomasochistische Phantasien aus.
Tochter Florence stellt sich die Frage zur Normalität ihrer Familie. Sie war sich immer sicher, ihre Familie würde nie aus dem Rahmen fallen und muss doch feststellen, dass ihre Eltern und ihr Bruder mit einem konventionellen Begriff von Normalität nicht zu fassen sind. Florence:
Die Welt, in die ich geboren werde, besteht aus Spannteppichen
Die Spannteppiche stehen für Spannungen, für konservative Konzepte, für Abgeschabtes. Ihr Vater versucht vergeblich, diese Spannungen auszuhalten: Er selbst hatte einen strengen Vater, nun will er anders sein für seine Kinder. Sein Erfindergeist trägt ihn über manche kritische Situation hinweg, doch der Jähzorn ist ein schlafender Vulkan, der sich ab und an Bahn brechen muss.
Es bleiben Leerstellen im Roman Findet mich
Dabei wird im gesamten Roman nicht endgültig klar, was die „Anormalität“ des Vaters ausmacht: Er fährt ziellos durch die Schweiz, übernachtet im Freien oder auf einem Campingplatz, streift durch das Dickicht der Wälder und will sein bisheriges Leben vergessen. Wenn er auf Menschen trifft, dann sollen es solche sein, die sein altes Ich nicht kennen.
Er will dorthin, wo er endlich alles abstreifen kann, all diese Normen, all die seit Kindheit eingetrichterten Verfremdungen und Begrenzungen. In den Wald will er, nackt und frei, und dort kann er sein, wie er ursprünglich ist, kann den Trieben folgen, Hand an sich legen ohne Zurückhaltung, unter freiem Himmel ungehemmt wie ein Tier vögeln, von der Hand in den Mund leben und immer der Nase nach. Und wer mit ihm kommt, ist eingeladen, es ihm gleich zu tun.
Auch warum er all das tut, wird nicht endgültig beantwortet. Auch wie es zu seiner offensichtlich psychischen Erkrankung kam bleibt eine Leerstelle. Der Roman zeigt keine Kausalitäten und für die „Wechselbäder“ dieser Familie gibt es keine eindeutigen Erklärungen.
Ein Verschwinden mit Hintertürchen
Allerdings lässt sich Erwin bei seinem Ausbruch eine Hintertür offen, die der Rückkehrmöglichkeit. Folglich hinterlässt er auf seiner Odyssee Hinweise, die es ermöglichen könnten, ihn zu finden. Z. B. gibt er in einer Kneipe ein übermäßiges Trinkgeld, hoffend, die Kellnerin könne sich an ihn erinnern, sollte die Familie sich auf die Suche nach ihm machten. Es ist das Spiel seines Lebens: „Findet mich“.
Erwins Irrfahrt, und die Erzählungen aus der Vergangenheit sind ineinander verwoben. Das Präsens des Romans ist der Kniff, der die Wirkkraft dessen, was lange zurückliegt, eindrucksvoll zur Geltung kommen lässt. Nichts ist wirklich vergangen, alles hat Gewicht.
Findet mich
Roman
327 Seiten, Leinen, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen
Geparden Verlag GmbH, Preis: 30 €
zu erwerben in jeder Buchhandlung Ihres Vertrauens