In diesem Jahr runden sich sowohl der Geburtstag als auch der Todestag von Rolf Dieter Brinkmann. Am 16. April 2025 wäre der 85. Geburtstag des Dichters. Am 23. April jährt sich zum fünfzigsten Mal sein Todestag. Brinkmann war gerade mal 35 Jahre alt, als er in London von einem Auto beim Überqueren einer Straße zu Tode kam. Er hatte – wie so viele Kontinentaleuropäer – beim Überqueren der Straße in die falsche Richtung geschaut und nicht bedacht, dass in Great Britain Linksverkehr herrscht. Was hätte dieser Beat-Poet noch alles geschaffen, wenn er nicht so früh verstorben wäre?
Pünktlich zum Jubiläum bringt der axel dielmann – verlag etwas Spektakuläres heraus
Pünktlich zu diesen beiden Daten hat der axel dielmann – verlag eine spektakuläre Veröffentlichung aus dem Nachlass von Rolf Dieter Brinkmann herausgebracht: Frank Xerox’ wüster Traum. Eine Arbeitskladde, die er mit seinem Schriftstellerkollegen Ralf-Rainer Rygulla zusammen gefüllt hat. Seite für Seite hat der axel dielmann – verlag dieses Manu- und Typoskript aus dem Nachlass, der im Marbacher Literaturarchiv aufbewahrt wird, als Faksimile herausgebracht. Der Umschlag des A-4-großen Buches ähnelt dem bekannten, bräunlichen Leitz-Schnellhefter. Die Blätter zeigen authentisch gut die Arbeitsweise der beiden Freunde vom Herbst 1969 bis zum Herbst 1970. Sie wollten mit diesem Projekt die klassische Autorschaft auflösen. Die im Wechsel entstandenen Texte in Art einer Collage sollten vergemeinschaftet werden, der jeweilige Autor dahinter verschwinden, eine neue literarische Gattung sollte entstehen.
Da kannten sich zwei seit langem
Da trafen zwei gut aufeinander eingespielte Poeten aufeinander. Ralf-Rainer Rygulla und Rolf Dieter Brinkmann kannten sich seit ihrer gemeinsamen Buchhändlerlehre. Gemeinsam erstellten sie auch die legendäre Beatnik-Anthologie ACID. Später ging Rygulla nach London, Brinkmann folgte ihm und das Ende kennen wir, siehe oben.
Frank Xerox’ wüster Traum wurde zur Hommage an die dahinter liegende Idee des Kopierens aus der Sprache, des Collagierens vorhandenen Sprach-Materials. Der Titel selbstverständlich inspiriert vom gerade einmal zehn Jahre zuvor 1959 erstmals ausgelieferten Groß-Kopierer des Unternehmens Xerox.
Wir assoziierten frei aus der Situation heraus, nach dem, was wir durch die Scheiben sahen, nach Stichwörtern, die wir uns zuspielten. Da war nie ein Zwang, uns oder Lesern eine bedeutende Mitteilung zu machen. Das lustvolle Erstellen eines Textes stand im Vordergrund.
Rolf Dieter Brinkmann
Frank Xerox’ wüster Traum wird durch Axel Diermann angereichert
Die Buchästhetik korrespondiert mit zahlreichen Illustrationen zu Frank Xerox. Die erhaltenen zentralen Texte hat der axel dielmann – verlag ergänzt durch einen Briefwechsel der beiden Schriftsteller, bereichert mit Montage-Plänen, Scribbles und Redaktionsnotizen, aber auch durch Einlassungen Dritter, beispielsweise durch eine Würdigung von Marianne Kesting und Anmerkungen von Brinkmann-Biograph Michael Töteberg (Aufschlussreiches Gespräch mit ihm über Rolf Dieter Brinkmann hier nachzuhören). Tötenberg weiß, dass bei Brinkmann etwas mitflirrt, das an Aufstand und permanente Revolte denken lässt, so weitreichend, dass sie sogar die 68er-Rebellion noch übersteigert, eine Meta-Revolte. Mit Rolf Dieter Brinkmanns Texten und deren literarischer Bedeutung hat das wenig zu tun, auch nicht viel mit seiner realen Biografie.
Kann man ihn „lieben“?
Von Zeitzeugen wird Brinkmann als ein ziemliches Ekel beschrieben, bis hin zu einem sozialen Autismus, der in seinen Tagebüchern etwa im Wunsch gipfelt, die Leute von der Straße in LKW zu sperren und die Abgase einzuleiten.
Auch seine aus heutiger Sicht frauenfeindlichen Texte und die im vorliegenden Band abgedruckten Zeichnungen lassen ein eher gebrochenes Bild dieses Dichtergenies aufscheinen (sein lyrisches Opus magnum Westwärts 1 & 2, das ihm 1975 posthum den Petrarca-Preis einbrachte, gilt bis heute als einer der wichtigsten Gedichtbände des 20. Jahrhunderts).
Liedchen
fick mich, fick mich
schnell
und er fickte sie Fickte sie schnell
HINTER EINEM BUSCH?
ES GAB KEINEN BUSCH. SCHIEN DER MOND?
ES GAB KEIN LICHT.
DIE BIRNE WAR KAPUTT
Text R. D. Brinkmann, Zeichungen B. Höppner
Diese Mappe ist Underground-Suchprojekt im Leitz-Format. Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygullas haben einen dialogische Versuche unternommen, der sich auch zeichnend, malend, fotocollagierend auszudrücken.
Noch eine wichtige, kölner literarische Stimme
Die Herausgebeber haben ein Nachwort von Dieter Wellershoff beigefügt. Aus einer intimen Kenntnis Brinkmanns von den absoluten Anfängen her hat Wellershoff Werk und Autor menschlich wie literarisch unvoreingenommen eingeordnet. Gerade die charakterliche Unsicherheit und überzogene Aggressivität des Autors müssen herausgestellt werden, um Brinkmann wieder menschlicher werden zu lassen – weniger überhöht, aber vielleicht etwas verständlicher in seinen faschistoiden Ausfällen, so Wellershoff:
Die Form selbst ist Ideologie und der traditionelle Zubringerdienst, die Bildung, eine Einübung im Hochblicken. Die Dichter haben zu diesem Mythos beigetragen, etwa wenn Gottfried Benn behauptet hat, mehr als sechs vollendetet Gedichte könne ein Autor in seinem Leben nicht zustande bringen. …
Stattdessen schlage ich vor, davon auszugehen, dass Schreiben auch Gedichteschreiben zu den möglichen Fähigkeiten aller Menschen gehört wie Schwimmen, Nachdenken und Tanzen, und nur in einer Gesellschaft, die die Spontanität der meisten zugrunde richtet, die Fähigkeit sich auszudrücken etwas Seltenes ist. Gerade deshalb sollte an jede literarische Äußerung der Anspruch gestellt werden, etwas von dieser möglichen allgemeinen Freiheit schon zu zeigen. Das Gedicht als exklusiver Kultgegenstand ist unglaubhaft geworden bis zu Peinlichkeit.
Dieter Wellershoff in seinem Nachwort
Ein literarischer Kleinod, nicht nur für die literarische Forschung
Wer dieses literarische Kleinod, dessen Entdeckung der axel dielmann – verlag dankenswerter Weise ermöglicht hat, zur Hand nimmt, kann ungefiltert la naissance d’un texte erleben: Streichungen, Verbesserungen, Korrekturen, all das sieht der Leser auf den Seiten und verliert sich in den Schaffensprozess dieser beiden Dichter, weiß am Ende nicht mehr, wer wer ist und hat am Ende ein Kaleidoskop zu verdauen. Ein Buch, das man immer wieder gerne zur Hand nimmt, wenn man an der Entstehung von Literatur/Lyrik interessiert ist. Und gleichzeitig ist es ein wertvolles Stück Literaturgeschichte, die ohne die Veröffentlichung durch den axel dielmann – verlag im Marbacher Archiv verstauben würde und eventuell nur in einsamen Doktorarbeiten als Sujet einmal in Auszügen einer literarischen Elite zu Augen käme.
Rolf Dieter Brinkmann & Ralf-Rainer Rygulla
FRANK XEROX‘ WÜSTER TRAUM
und andere Kollaborationen
112 Seiten, A4 Faximilie-Ausgabe
Mit 50, diverse Collagen, Fotos, Faksimiles von durch Brinkmann und Rygulla im Wechsel und Austausch bearbeiteten Texten („Oberflächenübersetzungen“)
axel dielmann – verlag, 26,00 €
zu erwerben in jeder Buchhandlung Ihres Vertrauens
Tut mir leid, zum Teil ausgesprochen abstoßend. Kann mich dafür nicht begeistern.
Auch bin ich wohl falsch informiert. Als ich in GB war, herrschte dort noch Linksverkehr.
Liebe Hanni,
du hast natürlich recht, in Great Britain herrscht Linksverkehr seidem sich England 1835 für den Linksverkehr entschieden hat. Das liegt vielleicht dan, dass die Engländer daran gewöhnt sind, Dinge auf ihre eigene Weise zu tun. Die U-Bahn-Linien in London tragen keine Zahlen und sind auch nicht nach Farben geordnet. Sie haben Namen, zum Beispiel die „Circle Line“ oder die „Jubilee Line“. Die Dauerkarte heißt aus unerfindlichen Gründen „Oyster Card“.
Den Fehler, Autoverkehr in GB in meinem Blogbeitrag als Rechtsverkehr zu bezeichen, habe ich korrigiert.