
Bei der Lesung Überleben hoch3 am 21. Mai 2025 im Café Lesbar der Stadtbibliothek Stuttgart, vertraten drei Autorinnen die Ansicht, dass die Zukunft weiblich ist. Der Blick der drei Autorinnen richtete sich auf die Leidenssituation von Frauen. Die Stuttgarter Bücherfrauen hatten diese Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem FdS, dem Schriftstellerhaus und der Stadtbibliothek im Rahmen des Stuttgarter Literaturfestivals [ÜBER]Leben konzipiert.
Ein hoher Altersunterschied zeichnet die drei Autorinnen aus. Der genaue, empathische Blick auf ihre Frauenfiguren eint die drei. Elfi Conrad, Jahrgang 1944, studierte Musik und Deutsch in Hamburg und lebt jetzt in Karlsruhe. Sie lehrte dort an Schulen und an der Pädagogischen Hochschule. Daneben vertiefte sie sich in die Fächer Kognitionswissenschaft und Semiotik, in denen sie promovierte. Sie begann ihre literarische Laufbahn unter dem Pseudonym Phil Mira. Ihre letzten beiden Bücher (Schneeflocken wie Feuer und Als sei alles leicht) – von der Literaturkritik hoch gelobt – veröffentlichte sie im Mikrotext Verlag unter ihrem eigenen Namen. Aus Schneeflocken wie Feuer liest sie am heutigen Abend einige Passagen.
Überleben hoch3 Teil 1
Der Roman erzählt u. a. aus der Schulzeit der Autorin, Anfang der sechziger Jahre, von sexuellen Tabus, veralteten Frauenbilder, patriarchalen Strukturen. Die siebzehnjährige Dora im Roman will sich für die Erniedrigung, die sie jeden Tag erlebt, rächen. Ihr Opfer ist der Musiklehrer, ihre Waffe ist ihre Weiblichkeit, die sie bei ihrer Selbstermächtigung schonungslos einsetzt. Bei der Schilderung der Verführung des Musiklehrers greift Elfi Conrad zu Beschreibungen, die heute als sexistisch und frauenfeindlich zurückgewiesen würden. Der Text ist autobiografisch, wie Elfi Conrad im Gespräch mit der Moderatorin des Abends, Caroline Grafe, erläutert. Die Autorin zeigt einerseits, wie Strukturen der Unterdrückung von der Elterngeneration, die den Krieg miterlebt hat, weitergegeben wurden, erzählt aber gleichzeitig die Geschichte einer Befreiung aus ihnen.
Auch Theres Essmann stellt ein Frauenleben in den Mittelpunkt ihres Romans
In Teil zwei von Überleben hoch3 liest Theres Essmann, 1967 im Münsterland geboren, aus ihrem Roman Dünnes Eis. Sie ist studierte Germanistin, als Biblio- und Poesietherapeutin auf der Grundlage der Integrativen Therapie zertifiziert und in systemischem Coaching und Supervision ausgebildet. Vor ihrer Freiberuflichkeit war sie fast zwanzig Jahre lang als Führungskraft in der freien Wirtschaft tätig. Seit 2023 arbeitet sie freiberuflich als Schriftstellerin und als Referentin für literarisches und kreatives Schreiben. Heute lebt sie in Stuttgart. Der Roman Dünnes Eis stand auf der Shortlist für den Anna-Haag-Preis 2024 und wurde gefördert durch das Jahresstipendium für Schriftsteller des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst des Landes Baden-Württemberg.
In Dünnes Eis erzählt Theres Essmann von dem Kriegstraumata einer 99-jährigen Frau. Die betagte Marietta lebt in einer Seniorenresidenz und wartet in der Nacht auf den Beginn ihres einhundertsten Lebensjahres. So beginn der Roman. Mit diesem Warten nach einem langen Leben.
Ein Frauenleben, das geprägt war von vielen körperliche und seelische Wunden, die Marietta im Zweiten Weltkrieg und bei ihrer Flucht aus Ostpreußen davontrug. Details darüber erfährt der Leser durch Mariettas Träume. Schon bei der Leseprobe an diesem Abend wird klar, Theres Essmans große Stärke liegt in der Sprache. Ihre wunderschönen Bilder und Vergleiche bezaubern. Sie beobachtet feinfühlig und erzählt präzise. Eine leise Sprache, die durch die dramatischen Themen leitet.
Da ist der Stock und hier der Bettgriff. Ein kleines Schwungholen, ein Abstützen und Hochstemmen. Es sind die Übergänge, an denen es hakt. Aber wenn sie erst einmal steht, dann geht’s. Auch ohne Stock. Wie jetzt am Kleiderschrank vorbei durch die Tür und dann die Bücherwand entlang. Von oben links Aurel über mittig Musil bis unten rechts Zweig. Ihr ganzes Leben entlang und das all der anderen dazu, die ihr durch die Abertausenden Seiten die Hand gereicht haben.
Der Ukraine Krieg überschattete das Schreiben
Therese Essmann hat im Gegensatz zu Elfi Conrad keine eigenen Erlebnisse einfließen lassen. Sie hat viele Gespräche in der Recherchephase mit alten Menschen geführt, wie sie an diesem Abend dem Publikum erläutert.
Der Ausbruch des Ukraine Krieges 2022 zeigte ihr beim Schreiben, dass die Gräueltaten, die sie in ihrem Roman beschreibt (Vergewaltigung als Waffe), allgegenwärtig sind.
Grit Krüger und der Tunnel
Grit Krüger, 1989 in Erfurt geboren, ist die jüngste der drei Autoren beim Leseabend Überleben hoch3, die heute über das Leben und über das Überleben von Frauen schreiben. Grit Krüger studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Heute lebt sie in Ettlingen bei Karlsruhe.
Sie liest aus ihrem 2023 im Kanon Verlag erschienen Debüt Tunnel. Der Roman wurde mit dem Anna-Haag-Preis 2023 ausgezeichnet. Der Text erzählt von der alleinerziehenden Mascha und ihrer Tochter Tinka, die in prekären Verhältnissen leben und sich gegen ihre schwierige Lebensrealität behaupten. Der Roman beginn in einer Badewanne, in der Mascha Eroberungsphantasien träumt. Sie möchte hinausfahren ans Meer und gibt sich in der Wanne ihren Eroberungsphantasien hin.
Ihr Wasser, ihr Wasser: eiterweiße See, schonend rückfettende See, Milchundhonigkunstgeruch. Das Abluftbrummen grollt ihr einen Sturm zusammen. Im Dunkeln grollt sichs besser, denkt Mascha, drum pfeift sie rund um sich herum die Teelichter aus. Zwei sind schnell erwischt, beim dritten muss sie sich am Wannenrand hochziehen und hinüberbeugen. Beim letzten aber hilft auch das nicht: Das flackert vor sich hin. Pfiff um Pfiff, und nichts erlischt. So eine Sturheit! Und die Sturheit, die gefällt ihr. Ein halbes Lächeln bricht ihr Pfeifen. Gut so, denkt sie sich. Weiter so. Dann wischt sie das Licht vom Fensterbrett in die Gischt – und tschüs! Im Dunkeln lehnt sie sich zurück, genießt das Tapetenblattern an der Decke und zitiert die Weite herbei.
Ein Leben in Armut erfordert Mut, also ist Mascha furchtlos. Sie zieht mit ihrer Tochter in ein Altersheim, um zu überwintern und sich das Amt vom Hals zu halten. Mascha nimmt eine Stelle als Pflegeassistenz an. Im Altersheim beginnt sie, gemeinsam mit dem Heimbewohner Tomsonov, im Keller einen Tunnel zu graben nachdem Tomsonov unter dem Sandsteinfundament im Keller Geräusche hört. Sie hofft mit dem Tunnel hinaus, auch Geborgenheit zu finden.
Nach diesen Einblicken in schwierige Frauenschicksale können die Zuhörer aus dem 8. Stock der Stadtbibliothek erleichtert in den Abend hinausgehen, unbehelligt von Krieg und Gewalt.