Nie wurde Krieg so vielschichtig aus der Sicht der Betroffenen beschrieben wie 1914. Nichts scheint (außer vielleicht die Liebe) das Schreiben so notwendig zu machen wie der Krieg:
28,7 Milliarden Briefe und Postkarten wurden in der Zeit zwischen 1914 und 1918 geschrieben.
Die Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne zeigt Briefe und Tagebuchauszüge aus dem riesigen Fundus des Deutschen Literatur Archivs Marbach. Dieser Fundus umfasst etwa 18.500 Texte. Die Anstifter luden zu einer Führung durch diese, aus literarischer Sicht höchst interessante Ausstellung, ein. Renate Brunner führte uns durch die Ausstellung und las aus Tagebüchern und Briefen einiger Schriftsteller und Schriftstellerinnen und stellte die Frage: Was ist der August 1914 für die einzelnen Menschen? Wie verhält sich die private Zeit zur historischen Zeit? Was wird in diesen vier Wochen geschrieben?
Sie stellte uns u. a. den Elsässer Dichter Ernst Stadler vor. Er ist dreißig Jahre alt, als der erste Weltkrieg begann. Stadler, der in Oxford studiert und in Brüssel deutsche Literatur unterrichtet hat, beginnt am 31. Juli ein Kriegstagebuch: „Morgens Einkäufe: Revolver“. Am selben Tag, einem Freitag, nimmt der gleichaltrige Franz Kafka in Prag sein Tagebuch in die Hand: „Ich habe keine Zeit. Es ist allgemeine Mobilmachung. K. und P. sind einberufen. Jetzt bekomme ich den Lohn des Alleinseins. Alleinsein bringt nur Strafen.“
Stadler und Kafka sind nur zwei Autoren, deren Tagebücher oder tagebuchähnlichen Briefwechsel in der Ausstellung wiederholt aufgeschlagen werden – der August 1914 wird Tag für Tag aus dem Archiv geholt, der Zeitraum danach stichprobenartig. „Zeit“ lässt sich aus diesen meist kleinformatigen Büchern und Briefen sehr persönlich und konkret entfalten. Jedes Tagebuch, jeder Brief ist für sich ein eigener historischer Erfahrungsraum, alle zusammen sind sie eine Begegnung mit den vielen Stimmen dieses ungeheuren Krieges, der 9,5 Millionen Soldaten das Leben kostete.
Die Ausstellung wird ergänzt durch eine Truppenbücherei. 10 Millionen Bücher wurden über mobile Büchereien den lesehungrigen Soldaten in den Schützengräben zugänglich gemacht. Wir erfuhren in der exemplarischen Bücherei, was die Soldaten lasen. Anspruchsvolle Literatur, philosophische Bücher aber auch Sachbücher und Unterhaltungsliteratur. Eine propagandistische Ausrichtung, wie sie im 2. Weltkrieg erfolgte, gab es im ersten Weltkrieg noch nicht. Hermann Hesse, wegen seiner Kurzsichtigkeit „kriegsuntauglich“, widmete sich z. B. der Zusammenstellung von Soldatenbüchereien.
Die Anstifter haben sich mit einem halben Dutzend Initiativen zu einem Netzwerk zusammen geschlossen, um die Ereignisse von 1914 zu reflektieren, gleichzeitig aber auch die heutigen Kriegsgefahren in den Blick zu nehmen. Deswegen ist auch heute der Titel des Buches der Friedensaktivistin Bertha von Suttner aktuell wie 1898: „Die Waffen nieder!“