Ich hätte es wissen müssen: die Bücher, die mir mein guter Freund H. empfiehlt, gefallen mir in der Regel nicht. Aber mit seinem letzten Literaturtipp hat er mich an die Angel genommen, an der ich wie ein Fisch über 340 Seiten lang zappelte. Das liegt an der Art und Weise, wie Charles Lewinsky diesen Roman gestrickt hat oder sollte man besser von den Romanen sprechen, die zwischen die beiden Buchdeckel gebunden wurden? Man hat zwei Romane vor sich: Jenen, der von der Misere eines Werbetexters handelt und jenen Bestseller mit dem griffigen Titel Angst!, den der Werbetexter mi Hilfe von Künstlicher Intelligenz verfasst.
Doch der Reihe nach:
Der Ich-Erzähler sieht sich zu Beginn des Romans dem Unglück in zweifacher Form gegenüber: Ende Dreißig wird der Werbetexter von seine Freundin verlassen. Sie schickt ihm einige Verwünschungen hinterher. Damit nicht genug, bedient sie sich auf Bali eifrig seiner Kreditkarte, trink Champagner auf seine Kosten. Sie hinterlässt ihm nicht mehr als ein Terrarium mit einer Kornnatter, um die er sich zusätzlich kümmern muss.
Dann wird ihm auch noch sein Job als Werbetexter für Müslis fristlos gekündigt. Sein Chef Anderberg meint, eine KI könne ebensolche Texte weit preisgünstiger schreiben. Unser Held hängt durch und wendet sich nun seinerseits der KI zu, um einen Roman zu schreiben. Das jedoch ohne jegliche Vorkenntnisse auf diesem Gebiet.
Die KI-generierten Passagen fallen deutlich ab
Die KI-Passagen hat Charles Lewinsky von den Tools „ChatGPT“ und „Neuroflash“ generieren lassen. Im Text sind sie kursiv hervorgehoben, ebenso wie die Passagen, die er aus Wikipedia abgeschrieben hat. So stehen diese – aus Abermillionen Internet-Quellen zusammenrührten Passagen – den originären Zeilen von Charles Lewinskys gegenüber. Die KI-Stellen sind erwartungsgemäß voller Klischees und abgenutzter Formulierungen. Doch obwohl Charles Lewinsky sie nur in wohldosierten Maßen eingeflochten hat, langweilen sie, denn ihr Sprachduktus fällt gegenüber dem Lewinsky-Text ab. Lediglich die Erkenntnis, dass ChatGPT schlecht formuliert, lässt den Leser diese Passagen ertragen.
Allerdings sind diese Abschnitte für die Entwicklung der Handlung notwendig. Denn der arbeitslos gewordene Werbetexter schreibt nun mit Hilfe von ChatGPT einen Roman. Unterstützt wird er dabei durch seine Nachbarn Bill und Belle. Diese beiden „Gutmenschen“ bringen den Werbetexter mit ihrem schwerreichen Freund Frank zusammen. Frank will sein Geld in einem angesehenen Verlag investieren und die Menschheit dadurch aufrütteln, dass er Bücher schreiben lässt, die aufwühlende wahre (!) Geschichten aus allen Elendsregionen der Welt erzählen. Echt und ehrlich soll alles an diesen tränenreichen „Narrativen“ sein. Der namenlose Erzähler erkennt schnell, dass die nackten Fakten durch Aufhübschen und Ausschmückung erst die echten Emotionen wecken können und die Welt gerettet werden kann.
Ich habe die Geschichte erfunden (oder die KI hat sie für mich erfunden), aber wenn ich mir vorstelle, wie Schabnam sie mir erzählt, kommen mir die Tränen. Das ist ein gutes Zeichen.
Mit finanzieller und KI-Unterstützung gelingt dem verschmähten Werbetexter das schier Unmögliche: Er schreibt einen Bestseller, auf den sogar Denis Scheck aufmerksam wird. Dadurch läuft die Werbemaschine für diesen Roman richtig heiß und die Umsätze erreichen ungeahnte Höhen.
Woher eine fiktive Autorin nehmen?
Es soll zu einem Interview mit der (fiktiven) Autorin des Romans kommen. Die ziert sich, denn auf sie wurde von ihrer Familie in Afghanistan mit Säure ihr Gesicht entstellt und sie scheut die Öffentlichkeit wie das Weihwasser, denn ihre Familie ist ihr auf den Fersen. Der Erzähler, der immer vorgab, ausführliche Gespräche mit der nicht existenten Afghanin Schabnam geführt und deren Geschichte aufgeschrieben zu haben, weiß sich jedoch zu helfen. Wie der Ich-Erzähler sich aus dieser Zwickmühle, eine fiktive Person in einer realen Fernsehsendung zu präsentieren befreit, sei an dieser Stelle nicht verraten.
Der Roman zeigt auf seiner Metaebene, dass es mit ein wenig redaktioneller und stilistischer Betreuung nicht zu schaffen ist, Müsli-Texte oder Frauenleidensgeschichten mit links und auf Knopfdruck zu produzieren. Ähnliches hatte auch schon Verena Boos im Schriftstellerhaus geäußert (siehe hier), als sie über ihre Versuche sprach, mit Hilfe von ChatGPT Romanideen zu generieren. Die zukünftige Entwicklung der KI wurde auch in der Zeit (Ausgabe 05/2025) ausgiebig diskutiert und die Frage aufgeworfen, inwieweit ChatGPT einen Autor ersetzen kann.
Charles Lewinskys Roman überzeugt nicht
Lewinsky hat mit Täuschend echt einen Roman abgeliefert, der sich dieses heißen Eisens angenommen hat, ist im Ergebnis aber nicht wirklich überzeugend. Auch die äußere Aufmachung wirft Fragen auf: Dass die KI-genierten Stellen kursiv gedruckt sind, ist hilfreich. Das Lesevergnügen wird allerdings durch extrem kurze Abschnitte gemildert. Teil bestehen die Abschnitte nur aus wenigen Zeilen, manchmal nur aus einer.
Zum ersten Mal ist mir dieses Layout bei den Büchern von Moritz Heger aufgefallen. Hier wurde sogar bei der wörtlichen Rede bei zwei Sprechern immer eine Leerzeile eingefügt. Ich hatte angenommen, der Verlag wollte damit ein eher schmales Manuskript etwas voluminöser erscheinen lassen. Dass Diogenes das nun auch bei einem sehr renommierten Autor macht, hat mich verwundert.
Täuschend echt
Roman, gebunden mit Schutzumschlag, 343 Seiten
Diogenes Verlag, Preis: 26,00 €
zu erwerben in jeder Buchhandlung Ihres Vertrauens