Elsternest

Harald Welzer, ein Kopf der Zeit

Harald Welzer
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Am 6. November 2016 war in der Reihe „Köpfe der Zeit“ Harald Welzer in der Literaturhausmatinée Stuttgart zu Gast bei Talkshowlegende Wieland Backes. Eine unglückliche Wahl der Organisatoren, trifft doch Harald Welzer mit seinen technikkritischen Thesen auf einen deutlich älteren Doktor der Naturwissenschaften, dem die digitale Welt fremd zu sein scheint. Zumindest seine teils naiven Fragen lassen diesen Schluss zu: Ob er denn ein Smartphon besäße. Harald Welzer antwortet lapidar: „Natürlich nicht“. Der Honorarprofessor für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg und Lehrender an Universität St. Gallen bleibt dabei ganz locker.

Die Frage, was sich am 7. Dezember 1835 ereignete, kann Harald Welzer nicht beantworten. An diesem Datum sei die Adler als erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth gefahren. Und ob er denn auch gegen die Eisenbahn gewesen wäre, wie er heute gegen die digitale Kommunikation zu Felde zöge, will Wieland Backes wissen. Harald Welzer nutzt die Antwort zu einer Attacke gegen das derzeitige Bahn-Management, das nicht mehr den Schienenverkehr im Fokus habe, sondern die Profitmaximierung. Für das unter der Dauerbaustelle S21 leidende Stuttgarter Publikum im Saal ist das eine nachvollziehbare These.

Die Unterschiede in den Technologien

Im weiteren Verlauf des Gespräches macht Harald Welzer deutlich, was der Unterschied der digitalen Revolution, am Beispiel der Smartphones, und den vorhergehenden Technologien ist. Schon das Fernsehen habe die Kommunikation verändert aber die Veränderung der Kommunikation durch die Handy-Technologie sei ungleich größer. Es wird mit dem Smartphone nicht nur kommuniziert, es wird auch flächendeckend überwacht. Durch einige wenige IT-Unternehmen, die Daten für ihre Zwecke ausnutzen, die ihnen die Benutzer freiwillig liefern. Der kulturelle Gebrauch der Technik sei bei der Eisenbahn oder auch später beim Auto mit dem Smartphone, das jeden Lebensbereich durchdringt, nicht zu vergleichen.

Als Beispiel führt er die Veränderung der öffentlichen Rede an. Noch vor zehn Jahren sei bei Podiumsdiskussionen anders gesprochen worden als heute, wo permanent die Gefahr besteht, dass irgendeiner mit seinem Smartphone eine Aufzeichnung macht und diese ins Netz stellt. Gedanken, die noch in der Entwicklung sind, könnten durch die Aufzeichnung und das Nichtvergessen des Internets gegen den Redner in Stellung gebracht werden. Das Vergessen sei aber eine wichtige menschliche Eigenschaft, die dadurch zerstört würde.

Ausschluss von Bürgern

Menschen werden von der Gesellschaft ausgeschlossen, wenn sie kein Smartphone besäßen. Zunehmend wird z. B. die Funktion einer Fahrkarte für den öffentlichen Personenverkehr auf das Handy verlagert. Auch öffentliche Einrichtungen böten immer mehr ihre Dienste über Apps an.

Zugriff auf Daten ermöglicht hohe Transparenz

Die Smartphone-Benutzer bewegen sich in einer eigenen „Bubbel“. Nachrichten, Kontakte, Kommunikation werden, z. B. über das „soziale“ Netzwerk Facebook, abgewickelt. Der Gründer und Vorstand dieser Firma, Marc Zuckerberg, hat Zugriff auf die Daten von über 1,8 Milliarden Menschen weltweit. Für Zuckerberg ergibt sich daraus eine totale Transparenz seiner Nutzer. Die Privatheit wird zerstört. Peer Steinbrück hat einmal gesagt: „Totale Transparenz gibt es nur in Diktaturen.“ Was anderes ist dann Facebook?

Die Suche nach Menschenfleisch

Der chinesische Begriff „Renrou Sousuo“ bedeutet: Suchmaschine für Menschenfleisch. Jeder Internetnutzer in China kennt den Begriff, der mit der Vernetzung des Reiches der Mitte entstand. Chinas Aufruf zur Menschenjagd könnte ein Vorbote dessen sein, was dem Rest der digitalisierten Menschheit blüht, erläutert Welzer an einem Beispiel der Auseinandersetzung zweier Autofahrer. Davon sei auf YouTube ein Video ins Netz gestellt worden. Der Internetmob veröffentlicht Wohnadresse, Namen der Angehörigen und des Arbeitgebers. Private Vorlieben werden an den Pranger gestellt. Wenn das Handy brummt, kommt die Angst, weil eine neue Drohung eingegangen ist: „Wir kriegen Dich.“ Mit der Macht des Schwarms werden Menschen zur Strecke gebracht.

Kommerzielle Ausbeutung aller Lebensbereiche

Plattformen wie Airbnb, ein im Silicon Valley gegründeter Community-Marktplatz für weltweite Buchung und Vermietung von Unterkünften, verkehren den Begriff der Gastfreundschaft ins Kommerzielle. Jeder kann seine Wohnung zum Hotel machen. Mit schwerwiegenden Folgen für die Nachbarn. In Berlin und Venedig hätte das bereits bedrohliche Formen angenommen, wenn Horden von Touristen in gewöhnliche Wohngebiete einfallen.

Harald Welzer sieht eine smarte Diktatur in unserem Alltag

Harald Welzer spricht von einer digitalen Diktatur, in der wir leben. Bei Diktatur hat man immer Leute in Uniform im Sinn, man hat Gewalt vor Augen, aber nicht so etwas wie eine nette Konsumgesellschaft, in der man ständig neue Angebote bekommt. Der zugrundeliegende Effekt ist aber der gleiche. Beide Systeme setzen am selben Punkt an. Die klassische Diktatur und das, was er „smarte Diktatur“ nennt, setzen am Individuum an. An seiner möglichst hohen Transparenz und an seiner Steuerbarkeit. Wir sind durch die Nutzung dieser Technologien einer Form von Überwachung und Verlust von Privatheit ausgesetzt, die eine Schutzlosigkeit von uns allen mit sich bringt. Denn es gibt Instanzen (Konzerne oder staatliche Stellen), die mehr über uns wissen als wir selbst.

Die Zerstörung der Privatheit ist ein „Regimewechsel“. Als Auswirkung nennt er die Skandalisierung im Netz. So hat z. B. der amerikanische Wahlkampf durch die Nutzung des Netzes eine radikale Änderung erfahren: Sex & Crime stehen im Mittelpunkt, nicht die politischen Programme und Lösungsstrategien.

Verteidigung der Demokratie

Harald Welzer tritt ein für die Verteidigung der Demokratie. Sie existiert noch. Unter demokratischen Bedingungen sei es ungefährlich, sich für Demokratie einzusetzen. Dazu fordert er auf.

Die smarte Diktatur.: Der Angriff auf unsere Freiheit
320 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
S. Fischer, Preis: 19,99 €

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