Wilhelm Tell auf die Bühne zu bringen ist auch nach 200 Jahren für die professionellen Theater einer Herausforderung. Umso erstaunlicher, dass die Regisseurin Gabriele Sponner mit ihrer Theatergruppe aus Laiendarstellern sich an diesen Text gewagt hat. Zwischen 7 und 75 Jahre alt sind die Mitglieder ihres Ensembles, die das Theaterspielen mittlerweile als „besondere Selbstverständlichkeit“ ansehen. Ein Teil des Ensembles spielt seit Jahren unter ihrer Leitung. Gabriele Sponner hat in Kooperation mit der Kunstschule Labyrinth, den Mitglieder der Jungen Bühne Ludwigsburg und Behinderten aus einem Ludwigsburger Wohnheim den großen Klassiker von Friedrich Schiller neu inszeniert. Ein halbes Jahr dauerten die Proben. Im Januar haben sie sich jedes Wochenende, täglich zwischen 6 und 7 Stunden lang, das Stück erarbeitet. Einzigartig, wie sie die siebzehn Darsteller des „Integrativen Generationen-Theaterensembles“ durch das Stück führt.
Die akustische und musikalische Untermalung des Stückes wird live von Albrecht Fendrich und zwei weiteren Musikern eingespielt. Der Künstler Albrecht Fendrich hat dazu eigens zwei Albhörner aus Dachlatten gebaut. Der Theaterdonner wird durch eine alte Blechpatte simuliert und die Rhythmik spielt Fendrich auf einem Ölfass.
Gelungene Verdichtung des Stoffs
Es scheint, als hätte Gabriele Sponner sich bei ihrer Textfassung am modernen Comic orientiert. Sie hat die komplizierten Sätze Schillers stark vereinfacht, so dass auch Menschen mit Behinderung den Text beherrschen können. Dabei ging die Schillersche Sprachrhythmik nicht ganz verloren. Immer wieder blitzt sein Sprachrhythmus in ihrer Fassung auf. Der Text wurde, ausgehend von der fünfstündigen Urfassung, auf ca. 70 Minuten verdichtet. Die wichtigsten Elemente des Stückes sind klar erkennbar:
Der Schwur auf dem Rütli, der zum Gründungsmythos der Schweizer Eidgenossenschaft gehört. Der berühmte Apfelschuss und die Liebesgeschichte der Berta von Bruneck mit Ulrich von Rudenz sind Bestandteil der Inszenierung. Berta von Bruneck, gespielt von einer jungen Frau aus dem Ludwigsburger Wohnprojekt, gewinnt Ulrich von Rudenz für die eidgenössische Sache.
Das Bühnenbild von Albrecht Fendrich orientiert sich wie der Text an dem reduzierten Stil eines Comics. Die Berge sind grob schraffiert an Leitern aufgestellt, hinter denen die Köpfe von Kühen wackeln. Die Zwingburg ist aus zwei hohen Türmen und einem Mauerwerk aus Bananenkisten konstruiert. Der Bau dieser Burg durch das unterdrückte Volk wird so anschaulich auf die Bühne gebracht.
Wilhelm Tell schießt den Apfel vom Kopf seines Knaben
Dramaturgischer Höhepunkt des Abends ist der Apfelschuss. Wilhelm Tell schert sich nicht um die Anweisung, den aufgesteckten Hut des Landvogts Hermann Gessler zu grüßen. Daraufhin wird er verhaftet. Gessler selbst zwingt ihn, vom Kopf des eigenen Kindes einen Apfel zu schießen, zur Rettung beider Leben und für seine Freilassung. Tell entnimmt seinem Köcher zwei Pfeile und trifft den Apfel. Den anderen Pfeil hat er für den Vogt bestimmt, hätte er seinen Sohn getroffen. Die dramaturgische Umsetzung dieser Szene ist einfach und eindrücklich: Eine Darstellerin des „kommentierenden Chores“ nimmt den Pfeil und führt ihn über die Bühne auf den Apfel auf dem Hut des Knaben. Schnell wird die Requisite durch einen vom Pfeil durchbohrten Apfel ersetzt.
Das Stück ist aktueller den je, angesichts der zu uns kommenden Kriegsflüchtlinge aus dem nahen Osten: Schiller postuliert ein Recht auf Leben und zeigt, dass jeder einzelne dafür eintreten muss. Die Unterdrückung im Schillerschen Drama geht von der brutalen Willkürherrschaft der habsburgischen Vögte aus. Welche Umwälzung dem Schweizer Volk ins Haus steht, spricht der sterbende Freiherr von Attinghausen im Kreis seines Gesindes und seiner Freunde aus: er prophezeit das Ende der Sonderstellung des Blutadels. Seine letzten Worte, ebenfalls aktuell: „Seid einig – einig – einig“.
Am Ende der Aufführung wird das Ensemble mit anhaltendem Beifall bedacht. Es ist die sechste Inszenierung, die Gabriele Sponner mit ihren Kooperationspartnern auf die Bühne gebracht hat und man wünscht sich als Zuschauer, dass sie noch viele weitere in Angriff nehmen wird.