Wie schön ist es, einen Freund mit dem Roman über Brooklyn zu beglücken und dieser Freund in helle Begeisterung bei der Lekture verfällt. Diese Begeisterung drückt sich in seinem Rezentionstext aus, den ich hier gerne wieder gebe:
Von der Begeisterung beim Lesen und der Not des Lesers mit dem Text
Ein Gastbeitrag von Bernhard Bathiany anlässlich der Lektüre von Eduardo Lagos Brooklyn soll mein Name sein
Es gibt nur wenige solche Bücher: Man möchte sich einkuscheln in ihre Sätze, in jedes Wort, in jede Silbe. Man möchte jede einzelne ihrer Zeilen einsaugen in sich und nie wieder davon lassen. Sobald man ein solches Buch gefunden hat, kann man sich gar nicht vorstellen, dass man jemals freiwillig damit aufhören könnte, es zu lesen. Es besteht durchaus die Gefahr, dass man nach Vollendung der letzten Seite sofort auf der ersten weiterlesen wird. Dem allerdings hat im vorliegenden Fall der Kröner-Verlag entgegengewirkt, indem einzelne Seiten der gebundenen Ausgabe, sobald man mehr als drei- oder viermal darin geblättert hat, damit beginnen, sich aus der Verleimung am Rücken zu lösen und in den Zustand fliegender Blätter überzugehen – was sehr an den ursprünglichen Zustand des fiktiven Romans erinnert, von dem im vorliegenden konkreten Roman die Rede ist.
Dessen fesselnde Wirkung stellt sich gleich auf den ersten Seiten ein – oder sie stellt sich gar nicht ein: dann nämlich, wenn man keine Synapsen für diese seltsame Art von Magie hat, die so unbedingt wirksam wie schwierig zu beschreiben ist.
Die Hauptfigur treffen wir nicht an
Die Hauptfigur treffen wir zu ihren Lebzeiten gar nicht an, da der Text mit ihrer Beerdigung beginnt.
Die Rahmenhandlung als solche, die die Klammer um das Ganze bildet, ist recht banal – Néstor, der jüngere der beiden Ich-Erzähler, will nach dem Tod seines Freundes Gal dessen unvollendetes Buchprojekt Brooklyn im Einverständnis mit ihm fertigschreiben, weil Gal selbst diese Aufgabe vor seinem Tod nicht bewältigen konnte. Und so erzählt er in der Folge, zusätzlich zu seinen eigenen Recherchen und Bemühungen, aus der Sicht Gals von dem, was dieser, der eigentliche Erzähler des fertigzustellenden Textes, aufgeschrieben und als eine Ansammlung von Notizheften und Ordnern hinterlassen hat. Eine Distanz gibt es dabei nicht, denn wie der Leser tut sich auch Néstor schwer, sich und Gal als Erzähler des vorliegenden Textes auseinanderzuhalten:
„Wenn ich wiederlese, was wir geschaffen haben, fällt es mir oft schwer, deine Stimme von meiner zu unterscheiden“ (S.29).
Brooklyn soll mein Name sein, ein autobiografischer Roman
Letztlich gilt Ähnliches für all die Andren, durch die und über die erzählt wird – der autobiographische Roman und damit das Leben Gals entsteht als ein Konglomerat aus Geschichten verschiedener Erzähler, die den Roman als eine Welt des Hörensagens erschaffen, die Néstor dann als der Letzte in der Reihe der Erzähler geglättet an die Leser weitergibt und so den angestrebten Roman erstellt – und somit wird nicht nur dessen Vollendung, sondern auch die gesamte Existenz Gals zu einer bloß erzählten: Néstor etwa erzählt uns, dass Gal in seinen hinterlassenen Papieren festgehalten habe, dass sein vermeintlicher Vater ihm erst, als er 14 Jahre alt gewesen sei, erzählt habe, woher er wirklich stamme und wer seine Mutter gewesen sei. An anderer Stelle sei festgehalten, dass eine weitere Person ihm erzählt habe, wer sein biologischer Vater gewesen sei. Es gibt nichts wirklich Gesichertes und nichts definitiv Abgeschlossenes in dieser Welt aus Erzählungen, bruchstückhaften Erinnerungen und Beobachtungen, die zusammen das Puzzle generieren, das Gal über sein eigenes Leben zusammengetragen hat. Auch was wir davon halten sollen, bleibt bis zum Ende die Frage, denn gerade von zentralen Ereignissen fehlt angeblich hier und da der Originalbeleg – so hat Gal einen Brief nicht im Original aufbewahrt, den er von Nadja, der Liebe seines Lebens, erhalten haben will und in dem sie versichert, dass sie ihn vermisst, und andeutet, dass sie daran denkt, zu ihm zurückzukehren. Zumindest geht das laut Néstor aus dem Text hervor, den Gal anscheinend fein säuberlich abgetippt, aber auch dann nur als Durchschlag aufbewahrt hat. Jahre zuvor hat Nadja ihn verlassen und er hat das nie verwunden, bis hin zu seinem Tod nicht. Die Kopie der Kopie seiner allergrößten Hoffnung … das regt zum Grübeln an. Nadjas Tochter, die seine Aufschriebe als auch die hinterlassenen Aufzeichnungen ihrer Mutter kennt, meint dazu:
„Schriftsteller, der er war, war [er] nicht ganz vertrauenswürdig“ (S. 412).
In anderem Zusammenhang sagt ein Freund über ihn,
„dass er seine Erinnerungen modifiziert[e], genauso wie er die Realität modifiziert[e]“ (S. 259).
Zwei ineinander verflochtene Erzählstränge bilden das Rückrat des Romans
Strukturiert wird das Ganze als zwei miteinander verflochtene Erzählstränge mit jeweils einem Ich-Erzähler – in wechselnden Portionen abwechselnd zwischen der Perspektive Néstors und der Gals, in die jeweils wiederum Binnenerzählungen, Ansprachen, Tagebuchnotizen, E-Mails und Briefe verschiedener Verfasser eingeschoben werden, sodass ein lose miteinander verknüpftes Konvolut aus einzelnen Szenen und Erinnerungen entsteht, Papiertürme, wie Néstor es ursprünglich nennt. Gal selbst meint dazu:
„Hier hast du es, Ness, Brooklyn, mein Buch, verstreut über die Seiten dieser Hefte“ (S.25).
So bleibt es letztlich auch, nachdem Néstor seine Arbeit beendet hat. Was wir lesen, scheint zunächst eher eine Ansammlung von einzelnen Ereignissen, Vorfällen und Erlebnissen zu sein als ein Roman, eine Episodenrevue am ehesten – jedoch auf fast magische Weise fesselnd in ihrer Einzigartigkeit. Und doch ist das nur der erste oberflächliche Eindruck: Das scheinbare Durcheinander ist in Wirklichkeit stringent strukturiert, wenn auch nicht chronologisch, und das anfänglich vermutete Chaos ergibt allmählich ein stimmiges Bild.
Die Sprache transportiert Poesie
Die Sprache ist in keiner Weise poetisch, transportiert aber jede Menge von Poesie. Sachlich ist diese Sprache, definitiv, und sie besticht durch höchste Präzision – doch hat man nie den Eindruck, dass es um Sachliches geht. Worum es dann geht? Um vieles, unbestritten: Um Brooklyn und Manhattan, wo die Handlung hauptsächlich stattfindet, um Gals Herkunft und damit auch um den spanischen Bürgerkrieg, um Literatur, Kunst und Musik, da ja die Hauptfiguren in Literaten- und Künstlerkreisen verkehren, um Freundschaften und Beziehungen und um politische Zeithintergründe – und das immer mit einem liebevollen Blick auf das Leben, die Liebe und die Menschen in ihrer Umwelt.
Nestor ist der einflussreichste Erzähler
Das mag nach einer erheblichen Dosis von Realismus klingen – es wird aber nicht der geringste Versuch unternommen, die fiktive Realität des Textes als eine reale auszugeben, die Fiktion also als etwas erscheinen zu lassen, was potenziell auch dem Leser in der Realität seines Lebens hätte zustoßen können: Nichts von dem, was Gal und sein Romanprojekt betrifft, wird unvermittelt berichtet, sodass sein ganzes Dasein nicht nur ein von ihm selbst und einigen andern erzähltes Dasein ist – Néstor gibt als der letzte und damit einflussreichste Erzähler vielmehr unumwunden zu, dass er
„verschwinden ließ, was nicht dazu bestimmt war, in Brooklyn einzugehen“ (S.28)
und dass er es vorziehe,
„alles aus dem Blickwinkel der Literatur zu betrachten“ (S. 353).
Weiterhin entschließt er sich am Ende dazu, wesentliche noch fehlende Papiere, in deren Besitz er erst gerät, als er denkt, sein Projekt beendet zu haben, nicht einzuarbeiten, obwohl er dadurch alle noch vorhandenen Lücken hätte schließen und alle Ungereimtheiten hätte beseitigen können (S.421).
Ein poetologischer Roman
Durchgehend wird dieser Roman als poetologischer Roman erkennbar, dessen eigentliches Anliegen mehr die Literatur und der Prozess des Schreibens ist als das Geschriebene und die uns allen bekannten Alltäglichkeiten, von denen er so gekonnt vielstimmig erzählt.
Passend dazu gibt es eine Fülle von literarischen Zitaten, Anspielungen, Erwähnungen und Parallelen. Mit Namen wie Auden, Blake, Boccaccio, Bukowski, Burroughs, Capote, Cervantes, Eliot, Ferlinghetti, Gibson, Hemingway, Joyce, Kafka, Kierkegaard, DeLillo, Mailer, Malraux, Melville, Miller, Nabokov, Nietzsche, Poe, Proust, Pynchon, Rilke, Roth, Salinger, Thomas, Twain, Updike, Valéry, Vergil, Verne, Whitman und Wolfe ist die Elite der US-amerikanischen und europäischen Literatur vertreten. Ähnliche, wenn auch etwas kürzere Listen ließen sich mit den im Buch erwähnten Künstlern und Musikern erstellen. Einem Kunstinteressierten und einem Literaturwissenschaftler, wie ja auch der Autor selbst einer ist, öffnen sich einerseits Welten und andererseits Abgründe:
„Bis zu mir dringt das Echo der Schreie, die in den Leinwänden begraben sind“ (S. 364)
Ob das dann auch zu einer erheblichen Steigerung der Verkaufszahlen führt, darf getrost bezweifelt werden. Wobei, wie es so schön heißt: Der Kenner genießt und schweigt.
Ein elitäres Geschenk
Vielen Dank, Michael, für dieses supertolle, wenn auch zutiefst elitäre Geschenk. Ich möchte mich einkuscheln in dieses Buch, in jedes Wort, in jede Silbe. Ich möchte jede einzelne ihrer Zeilen einsaugen in mich und nie wieder davon lassen. Jetzt, wo ich dieses Buch mit deiner Hilfe gefunden habe, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich jemals freiwillig damit aufhören könnte, es zu lesen. Es besteht die dringende Gefahr, dass ich nach Vollendung der letzten Seite sofort auf der ersten weiterlesen werde – auch wenn viele Teile vielleicht wieder lose als Papiertürme übereinanderliegen werden und der Inhalt des Ganzen sich nur noch verstreut über die [einzelnen] Seiten wiederfinden lässt.
Eduardo Lago: Llámame Brooklyn (Barcelona, 2006)
In der deutschen Übersetzung von Guillermo Aparicio und Carlos Singer:
Brooklyn soll mein Name sein (Stuttgart, 2021)
464 Seiten, Halbleinen mit Lesebändchen
Krömer, Preis 25,00 €
Zu erwerben in jeder Buchhandlung Ihres Vertrauens