Am 13.10.2017 saß eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Polens auf dem Podium der Stuttgarter Bibliothek: Olga Tokarczuk. Sie kam auf Einladung des Vereins Treffpunkt Polen. Im Publikum wurde viel Polnisch gesprochen, Olga Tokarczuk ist auch unter den in Deutschland lebenden Polen eine feste Größe. Die Autorin wurde am 29. Januar 1962 in Sulechów geboren, ca. 100 km von der deutsch-polnischen Grenze entfernt. Sie studierte von 1980 bis 1985 Psychologie an der Universität Warschau. Während ihres Studium arbeitete sie in einem Therapiezentrum für verhaltensauffällige Jugendliche. Bevor sie 1989 ihren ersten Roman veröffentlichte, praktizierte sie als Therapeutin. Seitdem hat sie ununterbrochen publiziert und ist mehrfach mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem mit 25.000 € dotierten Nike-Hauptpreis, ausgezeichnet worden (zweimal Hauptpreis, fünfmal den Nike-Publikumspreis).
Olga Tokarczuk ist eine vielfach ausgezeichnete Autorin
Ihre Werke gerieten immer wieder in die Kritik der in Polen Regierenden. Sie selbst schreibe weder für „das Vaterland“ noch für die Opposition, erläutert der Moderator des Abends, der für den „Verein Treffpunkt Polen“ arbeitende Manfred Mack. Ihre Themen seien allgemein menschliche Themen, doch diese geraten immer wieder in die Kritik der konservativen Katholiken in ihrem Land. Olga Tokarczuk ist neben Andrzej Stasiuk die derzeit erfolgreichste Autorin Polens. Ihre Romane sind in 30 Ländern veröffentlicht worden und wurden auch im Ausland mit Preisen ausgezeichnet.
Einen Ausschnitt aus dem Buch Der Gesang der Fledermäuse liest die Schauspielerin Barbara Stoll. Das Buch wird oft als Krimi beschrieben, m. E. ist das eine verkürztende Kategorisierung dieses Romans. Im Mittelpunkt steht Janina, eine Pensionärin, die ihre Rente als Englisch-Lehrerin und als Hüterin der verlassenen Datschen nebenan aufbessert. Sie ist eine Esoterikerin, die am liebsten Horoskope studiert. Ihr bester Freund heißt Dionyzo und besucht sie regelmäßig, um mit ihr seine William Blake Übersetzungen zu besprechen. Der Roman ist angesiedelt in einer düster romantischen Natur, in der im Winter, entleert von allen Sommerfrischlern, nur ein paar verschrobene Kauze übrig bleiben. Vage erfährt man von ihrem vorigen Leben, in dem sie als Ingenieurin in aller Welt Brücken baute.
Hochstände der Jäger – Vorhöfe der Hölle für die Tierwelt
Mit Hilfe von Horoskopen ist sie in der Lage, die genauen Todesdaten einzelner Personen zu erforschen und mit einem Todesfall beginnt auch das Buch. Ist es ein Unfall, ein Mord? Weitere Morde geschehen, immer an Jägern. Für Janina sind die Kanzeln der Jäger, von denen nicht gepredigt, sondern geschossen wird, die Vorhöfe der Hölle auf Erden. Die Polizei behandelt sie als Wahnsinnige, deren Anzeigen man nicht beachtet. Als langsam klar wird, dass die Leiche am Beginn des Romans eine ganze Serie von Morden nach sich zieht, fragt sich, wem man glauben soll: Der korrupten Welt da draußen, in der die Schöpfung Material ist, aus dem man Pelzkragen züchtet oder einer alten Frau, die einen Ausweg gefunden hat und die Wahrheit kennt? Sie kennt den Mörder: Es waren die Füchse und Rehe, die Vergeltung an Jägern und Züchtern üben!
Im Fadenkreuz der Regierenden
Der Roman hat durch die Verfilmung ein zweites Leben bekommen. Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland hat sich des Stoffs angenommen. Olga Tokarczuk schrieb mit ihr das Drehbuch zum Film Pokot (Die Spur). Der Film erhielt dafür auf der Berlinale 2017 den Alfred-Bauer-Preis.
Gegen den Film wurde in den sozialen Medien eine Hetzkampagne gegen Olga Tokarczuk gestartet. Der Vorwurf der Kritiker: der Film sei antipolnisch und antikatholisch. (In der Kirche wird immer wieder gepredigt, dass die Jäger letztendlich den Willen Gottes ausführen.) Aufgrund von Morddrohungen musste sich die Autorin unter Polizeischutz begeben.
Allgemein menschliche Themen in große Romane gepackt
Ihr Talent, einen philosophisch ambitionierten Stoff in literarische Form zu verpacken, hat Olga Tokarczuk auch in dem zweiten, an diesem Abend vorgestellten Roman unter Beweis gestellt. Es ist das tausendseitige Werk über Jakob Joseph Frank, einem aschkenasischen Juden, der sich als Sabbatianer, Rabbiner und Kabbalist verstand und glaubte, er sei eine Reinkarnation des biblischen Jakobs und des vermeintlichen Messias Schabbtai Zvi. Er zog im 18. Jahrhundert durch Osteuropa. Er konvertierte zum Islam und später zum Christentum. Er ließ sich mit 50-80 Anhängern 1787 in Offenbach am Main im Isenburger Schloss nieder. Bis zu seinem Tod, vier Jahre später, lebte er als unabhängiger Souverän mit dem Titel Baron mit seinem Hofstaat und herrschte über die ungefähr 400 polnischer Kleinadliger, die ihm hierher gefolgt waren.
Acht Jahre hat Olga Tokarczuk an diesem Roman geschrieben. Sie stieß in einem Antiquariat in Toruń (Thorn) auf den Stoff, wollte ursprünglich einen Essay darüber schreiben. Das war ihr aber dann zu wenig, sie wollte mehr aus dem Stoff heraus holen. Ihr schwebten zu Beginn der Arbeit 200 – 300 Seiten vor. Am Ende wurden es tausend Seiten.
Auch als Essayistin erleben die Besucher der Stadtbibliothek Olga Tokarczuk an diesem Abend: Barbara Stoll liest den Essay „Hab keine Angst“. Darin heißt es zum Schluss: „Solange wir schreiben und lesen sind wir zusammen!“ Das möchte man der Autorin als Zuhörer zurufen, nachdem man über die Anfeindungen ihrer Person im modernen Polen gehört hat.
Die Bücher der Autorin sind derzeit in Deutschland nur antiquarisch zu erhalten. Ein Verlag in Gründung wird sie demnächst wieder auflegen. Der historischer Roman über Jakob Joseph Frank, Księgi Jakubowe (Jakobs Bücher), 2014 in Polen erschienen, ist noch nicht auf Deutsch veröffentlicht.