Elsternest

Oliver Nachtwey spricht über die gekränkte Freiheit

Oliver Nachtwey

Am 17. Februar 2023 stellte Oliver Nachtwey sein neues Buch Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus im Literaturhaus Stuttgart vor. Leider war die Mitautorin des Buches, die Literatursoziologin Dr. Carolin Amlinger, an diesem Abend verhindert. Beide leben in der Schweiz, lehren und forschen an der Universität Basel. Mit dem Autor kam Andreas Baumann, Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg, ins Gespräch.

Andreas Baumann stellte den Baseler Soziologieprofessor ausführlich vor. Es gab und gibt eine intensive Zusammenarbeit zwischen der Heinrich-Böll-Stiftung und Oliver Nachtwey. Er hatte im Auftrag der Stiftung die Querdenkerszene in Baden-Württemberg untersucht, zusammen mit Dr. Nadine Frei. Erste Forschungsarbeiten zum Thema wurden bereits bei der Stiftung veröffentlicht, bevor er mit seiner Frau das beim Suhrkamp Verlag erschienen Buch schrieb.

Eine breit angelegte Feldforschung

Über 1200 Menschen aus der Querdenkerszene haben die Forscher – vor allem durch an der Forschung beteiligten Studenten – befragt. Mit über vierzig Personen haben sie darüber hinaus Tiefeninterviews geführt. Außerdem haben sie mit 16 aktiven AfD-Anhängern gesprochen. Bei der Auswertung des Materials entwickelten sie die Theoreme der klassischen Frankfurter Schule weiter. Dabei bezogen sie sich auf Theodor W. Adornos „Studien zum autoritären Charakter“.

Aus der Einleitung liest Oliver Nachtwey an diesem Abend vor. Die Autoren behaupten, dass sich in den westlichen Gesellschaften der Spätmoderne zunehmend ein „libertäres Freiheitsverständnis“ ausbreite. Was die Demonstranten darunter verstehen, ist im Grunde nichts anderes als die Verwechselung von Freiheit mit Willkür, die „Abwehr gegen jede Form der Einschränkung individuellen Verhaltens“, die sich zum einen dadurch auszeichne, dass sie ihre gesellschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen (narzisstisch) leugne und zum anderen im Kern autoritär und unsozial sei.

Die Menschen, denen wir begegnet sind, verteidigen die Freiheit, ihre Freiheit – doch dies auf eine merkwürdig apodiktische, ja geradezu autoritäre Weise … Die libertären Autoritären identifizieren sich nicht mit einer Führerfigur, sondern mit sich, ihrer Autonomie.

Kein Vertrauen

Und diese verteidigen sie mit autoritärer Aggression. In Politik, Medizin, Polizei, öffentlich-rechtliche Medien oder Wissenschaft haben sie keinerlei Vertrauen. Jede Autorität, die sich über ihre eigene stellt, ist für sie inakzeptabel.

Libertär ist ihr Autoritarismus, weil er eine Abwehr gegen jede Form der Einschränkung individuellen Verhaltens darstellt.

Anders als klassische Rechte wollen die Menschen, die bei den Protesten gegen die Coronamaßnahmen auf die Straße gehen, keinen starken, sondern einen schwachen, geradezu abwesenden Staat. Autoritäten oder übergeordnete Instanzen werden von ihnen mit allergrößtem Misstrauen betrachtet.

In einigen gelesenen Interviewpassagen zeigt Oliver Nachtwey auf, dass sich großer Teil der Protestierenden aus einem alternativen Milieu kommt. Grüne Wähler sind genauso darunter wie Menschen aus dem anthroposophischen bzw. esoterischen Umfeld. Aber auch Menschen, die sich Jahren noch gegen Stuttgart 21 protestiert haben.

Libertäre Autoritäre koppeln sich ab

Menschen, die so weit abgedriftet sind, koppeln sich von vermittelnden Wissensinstanzen (Presse, Wissenschaft) ab und ziehen den Glauben an ihre eigene Kompetenz aus einer Art „vorrationaler Intuition, die erklärt, ohne selbst erklären zu müssen“. Libertäre Autoritäre „validieren ihre Ansichten mit protowissenschaftlicher Evidenz, Gerüchten auf Telegram oder schlichten Fake News“. Komplexität ist ihnen fremd. Diese Erkenntnisse haben die Forscher anhand einer großen Anzahl von Flugblättern, Schriften und durch Auswertung einschlägigen Telegram-Kanälen gewonnen.

Der Widerspruch zwischen Freiheit und Gesellschaft

Ein Widerspruch zwischen Freiheit und Gesellschaft wird virulent, der natürlich immer schon vorhanden war. Einst richtete sich der Ruf nach Freiheit gegen die absolutistische Monarchie, feudale Abhängigkeiten, staatliche Zensur, Willkür und Repression. Der Begriff der Freiheit war verbunden mit der Forderung nach gleichen Bürgerrechten, etwa nach Meinungsfreiheit und dem allgemeinen Wahlrecht. Doch selbst im demokratischen Verfassungsstaat ist der Einzelne nicht gänzlich frei, alles zu tun, wonach ihm gerade ist. Das hat sich gerade angesichts der ergriffenen Corona-Maßnahmen deutlich gezeigt. Die individuelle Selbstverwirklichung wurde drastisch eingeschränkt und hat bei den untersuchten Querdenkern ein Kränkungspotenzial zutage gefördert, dass in Frustration und Ressentiments umschlug. Schnell wurden „die Gesellschaft“, „der Staat“, „die Elite“, „die Herrschenden“ dafür verantwortlich gemacht. Darin, so in der sich anschließenden, lebhaften Diskussion mit dem Publikum, führt Oliver Nachtwey aus, unterscheidet sich diese Bewegung fundamental von sozialen Bewegungen im 20. Jahrhundert, die im Wesentlichen auf Solidarität der Akteure bei der Erreichung ihrer Ziele setzten (Gewerkschaftsbewegung, Frauenbewegung etc.). Von den Werten (wie Solidarität und Gleichheit), die in ehemals linken Milieus gelebt wurden, ist bei den Akteuren der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen nichts mehr übrig geblieben.

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