Elsternest

Ralf Rothmann stellt neuen Roman vor

Ralf Rothmann im Literaturhaus Stuttgart
Ralf Rothmann im Gespräch mit Katharina Borchardt

Ralf Rothmann stellte sein neues Werk „Im Frühling sterben“ am 3.7. im Literaturhaus Stuttgart vor. Ich schätze ihn seit vielen Jahren für seine einfühlsamen Romane in lyrischer Sprache. Seine Ruhrgebietsromane „Milch und Kohle“ und „Junges Licht“, für den er 2004 den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis erhielt, haben mich begeistert durch genaue Beschreibung der Gefühle und Innenwelten seiner Protagonisten.

Er hat sich für seinen neuen Roman ein schwieriges Thema ausgesucht: Die Sprachlosigkeit der Vätergeneration, die als junge Männer mit dem Grauen des Zweiten Weltkrieges konfrontiert wurden. Wie in seinen vorangegangen Romanen verwebt er biografische Anteile mit Fiktion in diesem Werk. Erzählt wird die Geschichte der 17jährigen Freunde Walter und Fiete, die bei einem Freibierfest des „Reichsnährstandes“ für die SS zwangsrekrutiert werden. Rothmann, der von sich sagt: „Meine Sprache hat nur dann Schwerkraft, wenn ich aus meinen Erfahrungen spreche“ erzählt diese Geschichte der beiden Freunde, die in der norddeutschen Provinz in der Melkerlehre sind. Der Vater des Autors lernte ebenfalls in Norddeutschland das Handwerk des Melkers, er fand im Ruhrgebiet keinen Ausbildungsplatz als Bergmann. Die Zechen waren aufgrund des Krieges geschlossen. Auch er wurde von der berüchtigten SS-Division Frundsberg als Jugendlicher rekrutiert und zum Fahrer eines Versorgungslasters ausgebildet. Mit diesem Roman hat er seinem früh verstorbenen Vater ein Denkmal gesetzt.

Ralf Rothmann
Ralf Rothmann: „Im Frühling sterben“

Das Schweigen auf die Fragen des Ralf Rothmann

Als Ralf Rothmann acht Jahre alt war, fragte er seinen Vater: „Hast du jemanden erschossen?“ Er hatte eine Antwort erwartet, die vom Kämpfen und Sterben erzählt, wie er es aus seinen Indianerbüchern kannte. Aber der Vater antwortete nur: „Was soll ich denn jetzt sagen?“, und verstummte. Die Mutter sagte dann: „Geh dein Zimmer aufräumen!“ und schickte den Jungen auf sein Zimmer. Für Ralf Rothmann entstand damals ein Vakuum, das ihm sein ganzes Leben lang blieb.

Der Protagonist seines Romans, ebenfalls Schriftsteller, stellt auch solche Fragen an seinen Vater und erfährt das Schweigen über die Zeit, das beredter ist als viele Worte. Walter Urban hat sich nach dem Krieg unter Tage krumm geschuftet. Zu seiner Pensionierung hat der Sohn ihm eine Kladde geschenkt, verbunden mit der Bitte, seine Kriegserlebnisse aufzuschreiben. “Du bist doch der Schriftsteller“, bekommt er als Antwort zurück, die Kladde die der Sohn dem Vater gibt, bleibt leer. Die Arbeit, die der Sohn dem Vater auferlegen wollte, muss er nun also selbst tun. Das Ergebnis ist der Roman, den wir vor uns haben. Er beginnt mit den Satz: „Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann selbst mit Wahrheit füllt.“ Ein für Ralf Rothmann typischer Satz, der seine Nähe zum Sentiment nie verborgen hat und als Erfinder einer ganz speziellen Ausprägung eines romantischen Realismus gelten darf ohne jemals in den Kitsch abzugleiten.

Jugendliche als Kanonenfutter an die Ostfront

In langen Lesepassagen lässt Ralf Rothmann die ZuhörerInnen im Literaturhaus Einblick nehmen in dieses Romanwerk, das trotz der Wärme für sein Personal teils schwer zu ertragen ist, weil es ihm in eindringlichen Bildern gelingt, die Brutalität des Krieges darzustellen. Deutsche Offiziere werfen im letzten Kriegsfrühjahr in Ungarn ihren Männern Handgranaten in die Hacken, damit sie noch angreifen. Die Kriegserlebnisse der beiden Jugendlichen nehmen den größten Raum des Romans ein. Fiete spürt, dass er an der Front als Kanonenfutter verheizt werden soll. Als er einen Fluchtversuch von seiner Einheit wagt und gefangen wird, wird sein bester Freund von seinem zynischen Offizier gezwungen, an der Erschießung teilzunehmen. Dies wird Walter noch als Freundschaftsdienst „verkauft“: „Aus Menschlichkeit, natürlich. Weil du sein Freund bist, wie du sagst. Da wirst du gut zielen, damit er nicht leidet.“

Das Trauma manifestiert sich in den Zellen der Nachkommen

Ralf Rothmann erzählt von den Traumata, die sich über die Generationen durch transgenerationelle Vererbung weitergegeben werden. Er selbst träumt, seit er in die Pubertät gekommen ist, regelmäßig davon, erschossen zu werden. Im Gespräch mit der SWR-Redakteurin Katharina Borchardt erscheint er als ernster, eher spröder Schriftsteller, der ganz auf sein Sprache vertraut. Diese poetische Sprache hat er seit seinem Erstlingswerk „Stier“ immer wieder zu wundervollen Romanen verdichtet.

Wer nicht das Glück hatte, diesen Schriftsteller im Literaturhaus zu erleben, kann einen Mitschnitt der Veranstaltung am 14.07.2015 um 22.03 Uhr auf SWR2 hören.

Im Frühling sterben
234 Seiten, in Leinen gebunden
Suhrkamp Verlag, Preis 19,95 €

zu erwerben in jeder Buchhandlung Ihres Vertrauens

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