Volle Stuhlreihen erlebte das kleine Schriftstellerhaus am Donnerstag, 6.10.2022. Es scheint, als hätte der Verein mit diesem Format an seine belebten Zeiten vor der Pandemie angeknüpft. In drei Reihen hintereinander sitzen die Besucher und hören den Texten von Regina Boger und Hans M. Thill. Beide sind Mitglieder im Schriftstellerhaus. Das Forum der Autoren gibt Autoren die Gelegenheit, ihre noch nicht veröffentlichten Texte dem Publikum vorzustellen und anschließend kritisch zu diskutieren.
Verlust der Heimat und Vertreibung stehen im Mittelpunkt der Geschichten
Hans Thill eröffnet den Abend mit zwei Kurzgeschichten. Beide kreisen um das gleich Thema: Vertreibung und Flucht aus den deutschen Ostgebieten in der ehemaligen Tschechoslowakei. Durch die Verwendung von vielen Infinitiven verleiht der Autor der ersten Geschichte eine Atemlosigkeit, die an viele Momente einer realen Flucht anknüpfen.
Die Geschichte, so der Autor im anschließenden Gespräch, basiert auf den Erlebnissen seiner Lebenspartnerin, die mit ihrer Mutter 1945 aus dem Sudetenland vertrieben wurde. Vieles wird nur angedeutet: die Entbehrungen, die permanente Angst der Mutter um ihr Kind, die Bedrohung der weiblichen Flüchtlinge vor männlichen Übergriffen. Sich ganz auf die Sichtweise der Flüchtenden einlassend, schimmert die schwere Schuld, die die Deutschen gegenüber den osteuropäischen Völkern auf sich geladen haben, nicht durch. Ein Grund, warum es zur Vertreibung der deutschen Volksgenossen gekommen ist.
Unterschiedliche Formen in den Geschichten
Seine zweite Geschichte ist autobiografisch grundiert. Hans Thill musste mit seiner Familie als Fünfjähriger fliehen. Hier – wie auch in der ersten Geschichte – steht ganz das Erleben des Protagonisten im Mittelpunkt. Allerdings in der Form deutlich unterschieden von der ersten.
Von sprachlichen Feinheiten, Nutzung unterschiedlicher Stilmittel und historischen Einordnungen reicht die Diskussion des Publikums nach der Lesung beider Texte. Es ist eine lebhafte und engagierte Diskussion, die den Charakter der Werkstatt-Lesung unterstreicht.
Regina Bogers Geschichte spielt 20 Jahre später
Regina Boger kommt aus Ludwigsburg und arbeitete dort als „selbsternannte Stadtschreiberin“. Sie sammelte Geschichten der Ludwigsburger, die sie literarisch bearbeitete. An diesem Abend liest sie eine autobiografische Geschichte. Die ist Mitte der 60er Jahre verortet und erzählt von einem Urlaub der Familie in Norditalien. Die herrschsüchtigen Allüren ihres Vaters (eines ehemaligen NS-Soldaten) kommen ebenso zur Sprache wie die Vorurteile gegen die Italiener, deren Land sie aufgrund der klimatischen Verhältnisse nur allzu gern bereisen. Aber sie bleiben sich fremd und eine Verständigung zwischen Deutschen und Italienern ist bei der Einstellung der Eltern auch nur schwer vorstellbar.
Waren die beiden Geschichten von Hans M. Thill sprachlich stark durchgearbeitet, so wählte Regina Boger einen Stil, der an einen Schulaufsatz eines Teenagers erinnert. Die Geschichte ist aus der Perspektive der etwa 15-jährigen Tochter geschrieben. Auch hier schließt sich nach der Lesung eine lebhafte Diskussion der Zuhörer mit der Autorin an.