Tag 6: Präfektur Ehime, 15. Oktober 2023
Wenn das kein gutes Omen ist: ein Frühstück, wie für Götter zubereitet! Das riesige Buffet bietet alles, was das Herz eines Japaners höher schlagen lässt, aber auch der europäische Gaumen wird verwöhnt. M. kann sich kaum entscheiden, was er sich auf seinen Teller legen soll. Dazu herrlichen, frisch gebrühten Kaffee. Das war seine größte Befürchtung, dass er die Zeit in Japan auf Kaffee wird verzichten müssen. Aber nein, es gibt ihn.
Der mittlere Tempel
Der Bus bringt M. und seine Mitpilger zum Ausgangspunkt des heutigen Pilgerweges, an den Tempel Daihō-ji. DerTempel liegt in der Mitte der 88 Tempel umfassenden Pilgerroute und ist als naka-fudasho (mittlere Pilgerstätte) bekannt. Das Tempelgelände ist von altem Wald umgeben und M. spürt eine geheimnisvolle Atmosphäre, die den Tempel zu umhüllen scheint. Kaiser Go-Shirakawa (12. Jahrhundert) soll nach einem Besuch in diesem Tempel von seiner Krankheit genesen sein. Auch heute kommen noch viele, um um göttlichen Beistand bei der Überwindung von Krankheiten zu beten. Gesundheit steht bei den Pilgern ganz oben auf ihren Wunschzetteln oder Wunschhölzchen, neben Glück in der Ehe oder eine gute Schulausbildung.
Pilgersandalen Kūkais
Am Eingangstor zum Daihō-ji-Tempel stehen nicht nur die bekannten Tempelwächter niō A-gyō und der niō UN-gyō sondern es sind auch zwei riesige Strohsandalen aufgestellt, die die Pilgerschaft Kūkais symbolisieren sollen. Und da Kūkai auf seiner langen Pilgerschaft nicht mit einem Paar Sandalen auskommt, wird fleißig gesammelt: Die Sandalen sind mit Münzen gefüllt.
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Auch wenn die buddhistischen Rituale in den Tempelanlagen (Glocke schlagen, Hände waschen, Räucherstäbchen in einem Aschegefäß vor dem Haupttempel entzünden, eine kleine Kerze anzünden, den Gong vor dem Tempel zur Weckung der schlafenden Götter schlagen und ihnen dann die eigenen Wünsche auf weißen Zetteln oder kleinen Holzbrettchen überantworten und zum Schluss das Herz-Sutra rezitieren) streng und unerbittlich erscheinen, so sind doch Buddhisten keineswegs von Humor befreit. Ganz im Gegenteil. Diese „Pilger“ sind einfach zum Spaß hier hingesetzt.
Die Reiseleitung der Pilgergruppe hat sich entschieden, den Weg vom Daihō-ji zum nächsten Tempel, dem Iwaya-ji, nicht über die Asphaltstraße zu laufen, sondern wählt die anspruchsvollere und schönere Route über einen Bergrücken. Der Bus fährt M. und seine Mitpilger zum Einstiegspunkt eines schmalen, steilen Waldweges, der zum 7 km entfernten 45. Tempel der Shikoku-Pilgerreise, dem Iwaya-ji Tempel, auf dem Kuma-Hochland führt. Steile Anstiege wechseln sich mit Abschnitte in Talsenken ab. Vorbei an einer kleinen Plantage: Es scheint, als wäre diese weit ab von jeder Zivilisation. Dann wieder Bambusgewächse und je näher M. der Tempelanlage von Iwaya-ji kommt, desdo mächtiger werden die Zedern am Weg hinunter in die Schlucht aus Konglomeratgestein. Die den Tempel umgebende Natur ist beeindruckend. Hier stehen schon die ersten Steinfiguren und kleinere Gebetsstätten. Der Zugang zu einer Meditationshöhle ist vergittert. Dann betreten die Pilger die eigentliche Tempelanlage durch ein großes Tor von der westlichen Bergseite.
Iwaya-ji bedeutet: Tempel der Felshöhle
Majestätischer Frieden geht von diesem Ort aus. Die Gebäude schmiegen sich an die Bergflanken. Besonders beeindruckend an dieser Tempelanlage ist die tief in den Fels sich ziehende Höhle. Die Übersetzung von Iwaya-ji lautet: Tempel der Felshöhle. Die Gebete der Pilger werden von der Höhle in Empfang genommen. Im Schein flackernder Kerzen sind Steinfiguren unterschiedlicher Gottheiten und Bodhisattvas zu sehen.
In vielen Tempeln begegnet man dem Fudō Myōō
Vom Tempel führt ein steiler Weg mit vielen Stufen hinab. Der Abstieg ist gesäumt von moosbewachsenen Wäldern und kleinen Buddha-Statuen auf denen juwelenartiges Grün wächst. Darunter sind auch die 36 jungen Gefolgsleute der zornigen Gottheit Acala (Fudō Myōō), die über einem Brunnen aufgereiht sind. Das Moos und andere Pflanzen, die auf oder um diese Statuen herum gewachsen sind, verleihen der Ästhetik des Berges einen rustikalen Charme.
Nach dem talseitigen, westlichen Eingangstor zur Tempelanlage mit vier mächtigen Pfälen, säumen kleine Geschäfte mit Pilgerutensilien den Weg an dessen Ende sich der Shokuse River windet. Dort wartet der Bus mit dem Mittagessen (wieder leckere Bento-Boxen) auf die erschöpften Pilger.
Auf das späte Mittagessen hätte M. verzichten können, denn heute Abend gibt es ein traditionelles Kaiseki-Menue im Hotel Ryokan Oku-Dogo Ichiyu no mori. Kaiseki ist ein vielschichtiges Menü aus vielen kleinen Gängen, die sorgfältig aufeinander abgestimmt und handwerklich perfekt hergestellt werden. Kaiseki wird als die Hochform der japanischen Küche bezeichnet, weil sie in besonderer Weise Geschirr, Saisonalität und Regionalität in in ein umfassendes kulinarisches Erleben einbezieht.