Am 6. September 2024 war es wieder so weit: drei literarische Institutionen der Stadt Stuttgart luden zur Lyriknacht ein, die immer am letzten Freitag vor Schuljahresbeginn stattfindet. Nun schon zum 20. Mal. Das Jubiläum konnte aufgrund der Renovierungsarbeiten nicht in der zentralen Stadtbibliothek am Mailänder Platz stattfinden. Die Stadtteilbibliothek Bad Cannstatt war diesmal Gastgeber, die Stadtteilbibliothek, die ihrerseits in diesem Jahr mit einem umfangreichen Programm ihren 50-jährigen Geburtstag feiert.
Die Stadtbibliothek präsentiert in Bad Cannstatt den Lyriker Şafak Sarıçiçek
Safak Sarıçiçek wurde 1992 in Istanbul geboren, hat Jura studiert arbeitet heute als Rechtsreferendar im Bezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe. Seit 2016 schreibt er Lyrik, veröffentlichte in literarischen Zeitschriften (wie z.B. Ostragehege, Konzepte, Modern Poetry in Translation) und legte einige sechs Gedichtbände vor. (Der Band Kometen Kometen erschien 2019 in der Dortmunder Edition offenes Feld, in der auch Jane Welsch ihren Debütband veröffentlichte (Rezension auf diesem Blog siehe hier). 2024 erhielt er ein Arbeitsstipendium vom Förderkreis der Schriftsteller in Baden-Württemberg. Er kommt an diesem Abend, wie auch Alexandru Bulucz und Lütfiye Güzel mit der Literaturkritikerin Beate Tröger ins Gespräch.
Safak Sarıçiçek bezeichnet sich selber als Angehöriger einer Minderheit: in seiner Heimat ist er als Kurde und Alevid ein Außenstehender. In Deutschland ist er ein türkischer Dichter, der mit Begriffen jongliert, der dem Zuhörer höchste Konzentration abverlangt, um die vielen Metaphern und Anspielungen in seinen Gedichten zu erfassen. Hatte er anfangs Kurzgeschichten geschrieben, verlegte er sich zunehmend auf die Lyrik, um diese zur Sprachverfeinerung zu nutzen. Was dabei heraus gekommen ist, können die Zuhörerinnen und Zuhörer an diesem Abend erleben, als Safak Sarıçiçek aus seinem letzten Gedichtband Wasserstätten liest. Die Wasserthematik zieht sich durch seine gesamte Lyrik, wie die Moderatorin weiß. Er greift aber auch weiter aus und liest aus früheren Werken.
Schwingungen im Wasser
Die Gedichte erfordern ein hochkonzentriertes Zuhören, sie zielen auf vor allem auf das Hirn wenig auf das Herz. Da kommt die Zwischenmusik des Perkussionisten Uwe Kühner gerade richtig, um sich auf dem Wasser davon treiben zu lassen, wenn er der auf den mit Wasser gefüllten Kalebassen trommelt und Wasser in Schwingungen versetzt.
Lütfiye Güzel setzt sich wohltuend ab
Einen Kontrapunkt zur Lyrik von Safak Sarıçiçek setzt die vom Literaturhaus eingeladene, 1972 in Duisburg geborene, Lyrikerin Lütfiye Güzel. Sie veröffentlicht ihre Texte im Eigenverlag (Go-Güzel-Publishing), versendet ihre Lyrik quasi vom Küchentisch aus. 2017 erhielt sie den bedeutenden Literaturpreis Ruhr, den so renommierte Autoren wie Max Grün, Josef Reding und Ralf Rothmann vor ihr erhalten hatten.
Als die Moderatorin mit Lütfiye Güzel das aus Interviews bekannte Spiel von Frage und braver Antwort versucht, wird sie von Lütfiye Güzel auf eine harte Probe gestellt, denn die Duisburgerin unterläuft humorvoll immer wieder die Fragen von Beate Träger. Lütfiye Güzel ist weit mehr durch das Genre Poetry Slam geschult, als durch ein universitäres Studium. Ihre Texte sind spannende, erdverbundene Gedichte aber vor allem auch kürzere Prosa. Sie handeln von Alltagserfahrungen, erzählen von Armut, Einsamkeit, Sehnsucht und Erinnerungen. Sie liest nicht aus Büchern sondern von vielfach gelesenen Blättern und rezitiert immer wieder lange Passagen frei, so dass ihr Vortag eine Lebendigkeit ausstrahlt, die dem Vortrag ihres Kollegen diametral gegenüber steht. Ihre Texte strahlen einen Gegensatz zu den in der „modernen Lyrik“ erwarteten Konventionen, Gepflogenheiten und Erwartungen aus. Sie benennen Miseren des Alltags, verführt nicht zur Resignation, denn sie packt harte Wahrheiten in eine genaue und schöne Sprache, ohne ihr ein intellektuelles Etikett zu verpassen. Das lässt die Texte von Lütfiye Güzel an diesem Abend noch lange nachwirken.
Pausen sind in einer Langen Nacht geradezu eine Labsal
Nach diesen beiden, so gegensätzlichen Präsentationen von Lyrik verschafft die Pause dem Publikum einen Moment des Heraustretens aus dem lyrischen Kosmos und Gelegenheit mit einem Getränk eigener Wahl miteinander ins Gespräch zu kommen.
Nach der Pause musste die Moderatorin noch einmal einen Lyriker vorstellen. Ein bewundernswerter Kraftakt, den Beate Träger hier zu stemmen hatte. Warum die Moderation nicht zwischen Moritz Heger und Beate Träger anteilig ausgewogen verteilt wurde, kann sicher nur das Organisationsteam der Lyriknacht beantworten.
Das Toaca ruft zum Gebet
Nun also Alexandru Bulucz. Der 1987 in der Sozialistischen Republik Rumänien geborene deutschsprachiger Lyriker arbeitet vor allem als Literaturkritiker, Übersetzer und Herausgeber. Das kann man an seiner umfangreichen Publikationsliste auf Wikipedia nachlesen. 2022 erhielt er den Deutschlandfunk-Preis in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann-Preis. Der 37-jährige Lyriker hatte seinen neuesten, dritten Gedichtband Stundenholz, gerade bei Schöffling & Co. herausgekommen, im Gepäck. Darin hat er rumänische und deutsche Fundstücke und Erinnerungen verwandelt. Das titel-gebende Stundenholz, rumänisch »Toaca«, ist ein Stück Holz, auf das das in den orthodoxen Kirchen und in der katholischen Kirche anstatt oder neben den Glocken verwendet wird, um zum Gebet zu rufen, ähnlich dem Taku oder Gandi im Zen-Buddhismus.
Aber zuerst las er aus seinem zweiten Band was Petersilie über die Seele weiß, ebenfalls bei Schöffling & Co. 2020 erschienen Band, den titelgebenden Text. Er greift darin das Petersilienmasaker auf, das in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts in der Dominikanischen Republik an der schwarzen Bevölkerung verübt wurde. Das rassistische „Petersilien-Massaker“ war begleitet von einem zynischen Sprachtest: Wer aussah wie ein Haitianer und das Wort „Perejil“ nicht richtig aussprechen konnte, den ließ Diktator Trujillo aus der Dominikanischen Republik 1937 ermorden. „Perejil“ ist das spanische Wort für Petersilie. „Die kreolischen Haitianer konnten das R nicht rollen, wie es die Dominikaner konnten. So wurden sie separiert. Ähnlich, wie es schon im alttestamentarischen Buch der Richter beschrieben wird: Menschen werden ausgegrenzt die das Wort „Shibbolet“ nicht richtig betont aussprechen. Nur durch eine andere Sprechweise werden Menschen stigmatisiert und in Folge getötet. (Siehe hier Buch der Richter 12. 5,6). In der Dominikanischen Republik fielen dem Shibbolet-Test zehntausende zum Opfer.
Alexandru Buluczs Gedichte sind kraftvoll, voll rhythmischer Schönheit und rufen beim Zuhörer Bilder auf, denen man sich kaum entziehen kann. So verwundert es nicht, dass Uwe Kühnert in seiner an die Lesung sich anschließende Musiksequenz, vor allem Holzrhythmusinstrumente verwendet, nur ein einiges metallisches Schlaginstrument setzt glockenhelle Akzente.
Das Junge Schirftstellerhaus präsentiert sich
Moritz Heger hatte mit der Moderation der vom Schriftstellerhaus ausgesuchten Lyrik einen schweren Stand zu vorgerückter Stunde und nach diesen drei geballten Lyrikperformances. Er stelle zu Beginn seines Parts drei sehr jungen Lyrikerinnen vor, die sich ihre Lyrikperformance gemeinsam im Schreibkurs des „Jungen Schriftstellerhauses“ erarbeitet hatten.
Last but not least: Odile Kennel
Dann erst kam er zu seinem „Hauptgig“, der Lyrikerin Odile Kennel. Odile Kennel braucht man der Leserschaft dieses Blogs kaum zu beschreiben, häufig war von ihr hier schon die Rede. Und so nutzte sie die späte Stunde der Lyriknacht und las ironisch-humorvolle aber auch nachdenkliche Texte aus ihrem neuen Band »Irgendetwas dazwischen«. Odile Kennel nimmt darin Geschlechterstereotype auf Korn, sie seziert den Menschen und seinen Körper in sinnlich-rhythmischer, vielsprachiger Lyrik, in der sie Deutsch, Französisch und eine Prise Portugisisch miteinander vermischt. Damit ruft sie lustvoll zum ironischen Spiel auf, und konterkariert alle Einordnungen in Identitätsschubladen.
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